Leseprobe: "Auf der Suche nach dem Wunderbaren" (von P.D. Ouspensky)

(Mit freundlicher Genehmigung der S. Fischer Verlage (O.W.Barth Verlag))


"Auf der Suche nach dem Wunderbaren" ist ein Bericht über die Lehre G.I. Gurdjieffs, wie P.D. Ouspensky sie als Schüler von Gurdjieff erfuhr.


Maschine Mensch (S.83*):

„Die Leute wissen nicht, was ein Mensch eigentlich ist. Sie haben es hier mit einer sehr komplizierten Maschine zu tun, viel komplizierter als eine Lokomotive, ein Auto oder Flugzeug – aber sie wissen fast gar nichts über seine Bauart, Arbeitsgang und Möglichkeiten dieser Maschine. Sie verstehen nicht einmal ihre einfachsten Funktionen, weil sie den Zweck dieser Funktionen nicht kennen.“


Freiheit durch Selbsterkenntnis (S.150):

„Freiheit, Befreiung, das muß das Ziel des Menschen sein. [...] Nichts anderes gibt es für ihn, und nichts anderes ist ihm möglich, solange er sowohl äußerlich als auch innerlich ein Sklave bleibt. Um daher frei zu werden, muß man die innere Freiheit erringen.

Der erste Grund der inneren Sklaverei des Menschen ist seine Unwissenheit und vor allem seine Unwissenheit über sich selbst. Ohne Selbsterkenntnis, ohne Verständnis der Arbeit und der Funktionen seiner Maschine kann ein Mensch nicht frei sein, kann er sich selbst nicht lenken und wird immer ein Sklave bleiben und der Spielball der Kräfte, die auf ihn wirken.“

[...]
Selbsterkenntnis ist ein sehr großes, aber ein sehr vages und entferntes Ziel. Der Mensch in seinem gegenwärtigen Zustand ist sehr weit von Selbsterkenntnis entfernt. Darum kann genau genommen sein Ziel nicht einmal als Selbsterkenntnis bestimmt werden. Das Selbst-Studium muß sein großes Ziel sein. Es ist schon genug, wenn ein Mensch versteht, daß er sich selbst studieren muß. Es muß des Menschen Ziel sein, damit zu beginnen, sich selbst zu studieren, sich selbst auf die richtige Weise kennenzulernen"


Selbst-Beobachtung (S.151):

„Die Hauptmethode des Selbst-Studiums ist die Selbst-Beobachtung. Ohne richtig angewandte Selbst-Beobachtung wird ein Mensch niemals die Verbindung und die Beziehung zwischen den verschiedenen Funktionen seiner Maschine verstehen, wie und wieso bei jeder Gelegenheit alles in ihm `geschieht´.
[...]
„Es gibt zwei Methoden der Selbst-Beobachtung: die Analyse oder Versuche der Analyse, das heißt, Versuche, Antworten auf die Fragen zu finden: wovon ein gewisses Ding abhängt und warum es geschieht; und die zweite Methode ist das Registrieren, einfaches Verzeichnen im Verstand des Betreffenden von dem, was im Augenblick beobachtet wird. Selbstbeobachtung darf vor Allem am Anfang keinesfalls Analyse oder der Versuch von Analyse werden. [...] Beim Versuch, verschiedene Erscheinungen, die ihm in den Weg kommen, zu analysieren, [...] verliert er vollkommen den Faden der Selbst-Beobachtung und vergißt alles andere darüber. Die Beobachtung kommt zu einem Stillstand. Daraus wird klar, daß nur eines von beiden geschehen kann: entweder Beobachtung oder der Versuch der Analyse.
[...]
Vom ersten Augenblick an muß die Beobachtung oder das `Registrieren´auf dem Verständnis der grundsätzlichen Prinzipien der Tätigkeit der menschlichen Maschine fußen. Die Selbst-Beobachtung kann ohne Kenntnis dieser Prinzipien nicht richtig angewandt werden [...] . Darum ist die gewöhnliche Selbst-Beobachtung, mit der die Menschen ihr ganzes Leben hindurch beschäftigt sind, vollkommen nutzlos und führt nirgends hin."


Der Mensch als Vielfalt kleiner Ichs (S. 86):

„Der Mensch hat keine Individualität. Er hat kein einziges großes Ich. Der Mensch ist in eine Vielfalt kleiner Ichs geteilt."

„Und jedes einzelne kleine Ich ist fähig, sich das Ganze zu nennen, im Namen des Ganzen zu handeln, zuzustimmen oder abzulehnen, Versprechen zu geben, Entscheidungen zu treffen, was ein anderes Ich oder das Ganze dann ausbaden muß. Dies erklärt, warum Menschen so oft Entscheidungen treffen und sie so selten ausführen. Ein Mensch entschließt sich, von morgen ab früh aufzustehen. Ein Ich oder eine Gruppe von Ichs beschließt dies. Aber das Aufstehen fällt unter die Zuständigkeit eines ganz anderen Ichs, das diese Entscheidung vollständig ablehnt oder sogar nichts davon weiß. Natürlich wird der Mensch fortfahren, den Morgen zu verschlafen und am Abend wird er sich erneut entschließen, früh aufzustehen. In manchen Fällen kann dies sehr unangenehme Folgen für den Menschen haben. Ein kleines zufälliges Ich mag etwas versprechen, nicht sich selbst, sondern jemand anderem, einfach aus Eitelkeit oder aus Spaß. Dann verschwindet es und der Mensch, das heißt die gesamte Summe anderer Ichs, die ganz unschuldig daran sind, müssen ihr ganzes Leben dafür bezahlen. Es ist die Tragödie des Menschen, daß jedes kleine Ich das Recht hat, Schecks und Wechsel zu unterzeichnen und der Mensch, das heißt das Ganze, dafür aufzukommen hat. Oft besteht das ganze Leben eines Menschen darin, Wechsel kleiner, zufälliger Ichs einzulösen.“


Wissen und Sein (S.92):

„“Es gibt“, sagte er, „zwei Linien, entlang deren die menschliche Entwicklung vonstatten geht, die Linie des Wissens und die Linie des Seins. Bei richtiger Evolution entwickeln sich die Linie des Wissens und die Linie des Seins gleichzeitig, parallel und unterstützen einander. Aber wenn die Linie des Wissens der Linie des Seins zu weit voraus ist, oder wenn die Linie des Seins der Linie des Wissens voraus ist, dann wird die menschliche Entwicklung falsch und muß früher oder später zu einem Stillstand kommen.
[...]
Das genau ist es, was die Menschen nicht verstehen. Und sie verstehen nicht, daß das Wissen vom Sein abhängt. Sie verstehen nicht nur dies letztere nicht, sondern sie wollen es auch ganz bestimmt nicht verstehen. Und besonders im westlichen Kulturkreis nimmt man an, daß ein Mensch großes Wissen besitzen könne, zum Beispiel könne er ein fähiger Wissenschaftler sein, Entdeckungen machen, die Wissenschaft um ein Stück weiterbringen und zu gleicher Zeit könne er und habe auch das Recht, ein kleinlicher, egoistischer, schwächlicher, neidischer, eitler, spitzfindiger, naiver und zerstreuter Mensch zu sein. Es scheint hier selbstverständlich zu sein, daß ein Professor überall seinen Regenschirm vergißt.
[...]
Allgemein gesprochen ist das Gleichgewicht zwischen Wissen und Sein noch wichtiger als eine getrennte Entwicklung des einen oder des anderen. Und eine getrennte Entwicklung von Wissen oder Sein ist keinesfalls wünschenswert. Trotzdem ist es gerade diese einseitige Entwicklung, die den Leuten besonders anziehend erscheint. Wenn das Wissen das Sein überwiegt, weiß ein Mensch, hat aber nicht die Kraft zum Tun. Das ist nutzloses Wisssen. Andererseits, wenn das Sein das Wissen überwiegt, hat ein Mensch die Kraft zum Tun, weiß aber nichts, das heißt, er kann etwas tun, aber er weiß nicht, was. Das erworbene Sein wird zwecklos und Anstrengungen erweisen sich als nutzlos. In der Geschichte der Menschheit kennen wir viele Beispiele, wo ganze Zivilisationen untergingen, weil das Wissen das Sein überwog oder das Sein das Wissen.“


Der Mensch schläft (S.207):

„Er kann den Fluß seiner Gedanken nicht anhalten, kann seine Vorstellungen, seine Gefühle und seine Aufmerksamkeit nicht beherrschen. Er lebt in einer subjektiven Welt von `ich liebe´, `ich liebe nicht´, `ich habe gern´, `ich habe ungern´, `ich will´, `ich will nicht´, das heißt, was er meint, was er gern hat, was er meint, daß er nicht gern hat, was er meint, daß er will, was er meint, daß er nicht will.“ Er sieht nicht die wirkliche Welt. Die wirkliche Welt ist durch einen Schleier von Einbildungen vor ihm verborgen. Er lebt im Schlaf. Er schläft. Was man `klares Bewußtsein´nennt, ist Schlaf, und ein viel gefährlicherer Schlaf als der Schlaf nachts im Bett.

Nehmen wir irgendein Ereignis im Leben der Menschheit. Zum Beispiel Krieg. Gerade im Augenblick wird ein Krieg geführt. Was bedeutet dies? Es bedeutet, daß einige Millionen schlafender Menschen versuchen, einige Millionen anderer schlafender Menschen zu vernichten. Sie würden dies natürlich nicht tun, wenn sie aufwachen würden. Alles, was geschieht, ist eine Folge dieses Schlafes."


(*Seitenzahlen beziehen sich auf die zehnte Auflage, 1999)